Den Kickers fehlt der Überraschungseffekt
Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 21.02.2011
Fußball Die Moral des Regionalligisten aus Stuttgart stimmt beim 1:1 in Memmingen, die spielerische Linie nicht. Von Joachim Klumpp
Die Anreise zum Auswärtsspiel in Memmingen am Samstag ist für die Stuttgarter Kickers recht mühsam verlaufen, kein Wunder bei insgesamt rund 50 Kilometer Stau auf der Autobahn. Ähnlich zäh verlief dann der Auftakt nach der dreimonatigen Winterpause in der Fußball-Regionalliga. Erst in der Nachspielzeit erzielte Fabio Leutenecker den Ausgleich zum 1:1 (0:0). „Damit muss man am Ende noch zufrieden sein“, sagte der Präsident Rainer Lorz, weil dieser Treffer – nach Michele Rizzis Gelb-Roter Karte – in Unterzahl fiel. „Das spricht für die Moral der Mannschaft“, sagte der Trainer Dirk Schuster – und hob damit auch schon fast den positivsten Aspekt des Tages hervor.
Euphorie sieht anders aus. „Bei uns liegt noch einiges im Argen“, sagte der Sportkoordinator Michael Zeyer. Zum Beispiel das spielerische Element, das nach ordentlichem Beginn spätestens nach einer halben Stunde auf der Strecke blieb. Das hing auch mit der Auswechslung von Enzo Marchese (Knieverletzung) zusammen. Da kam ein Bruch ins Spiel. Der eingewechselte Ali Pala jedenfalls verstrickte sich als zweite (hängende) Spitze zu sehr in Einzelaktionen oder versagte frei vor dem Tor – wie kurz nach der Pause (52.). Als Fabian Gerster nach einem indirekten Freistoß noch die Latte traf, hatten die Kickers ihr Pulver verschossen, so dass Memmingen durch Candy Decker zur Führung kam (71.). „In dieser Phase haben wir unsere Linie verloren“, gab der Trainer Schuster zu.
Denn im Mittelfeld verstanden es weder Jéräme Gondorf noch Michele Rizzi (bis zum Platzverweis in der 74. Minute) die Fäden zu ziehen. Und von außen kam vor allem über die linke Seite zu wenig Tempo ins Spiel, um den Aufsteiger vor 1430 Zuschauern ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Bei den biederen Gastgebern ragte neben dem Torschützen Decker der frühere VfB-II-Spieler Andreas Hindelang hervor, der auch schon mit den Kickers in Verbindung gebracht worden war.
Bei den Kickers lagen die Lichtblicke eher in der Defensive. Besonders Dominique Fennell überzeugte, der in der Innenverteidigung überraschend den Vorzug vor dem Kapitän Marcel Rapp bekommen hatte – und das Vertrauen des Trainers rechtfertigte. „Bei mir zählt das Leistungsprinzip, er ist in der Spieleröffnung stärker“, sagte Schuster. Auch mit dem Verteidiger Leutenecker konnte er zufrieden sein. Der Senkrechtstarter der Winterpause schaltete sich immer wieder in die Offensive ein. Dort hatte der Neuzugang Florian Treske Luft nach oben und einen schweren Stand. „Aber er hat sich für die Mannschaft aufgerieben“, wie Schuster meinte.
Insgesamt dürfte diese Offensivleistung nicht ausreichen, um in der Liga eine Aufholjagd zu starten. Und Besserung ist kaum in Sicht. Die bisher etatmäßigen Stürmer Marcel Brandstetter und Philip Türpitz standen verletzungsbedingt nicht einmal im Kader und werden auch am Donnerstag gegen Darmstadt ausfallen, genau wie der gesperrte Rizzi. Und leichter wird die Aufgabe sicher auch nicht werden, schließlich hat der Tabellenzweite in der Winterpause gleich fünf starke Spieler verpflichtet.
Qualität und Quantität. In dieser Hinsicht hapert es bei den Kickers – zumindest wenn man die Aufstiegsambitionen in der nächsten Saison betrachtet. Der übergangsweise angetretene Präsident Lorz: „Ich habe gesagt, ich bleibe, bis wir in ruhigerem Fahrwasser sind.“ Das könnte dauern.
Kickers Wagner – Leutenecker, Köpf, Fennell, Gerster – Gondorf, Rizzi – Abruscia, Ivanusa (71. Savranlioglu) – Marchese (24. Pala/82. Yilmaz), Treske.
Tore 1:0 Decker (70.), 1:1 Leutenecker (90.+ 2).
Gelb-Rote-Karte: Rizzi (74.).
Stuttgarter Zeitung
Lichtblick Leutenecker
Helmut Ailinger und Jürgen Frey, aktualisiert am 21.02.2011 um 15:30 Uhr
Memmingen – Guido Buchwald war nicht dabei. Das neue Präsidiumsmitglied der Stuttgarter Kickers hatte zu seinem 50. Geburtstag eine Reise nach Lissabon inklusive Besuch des VfB-Europa-Liga-Spiels geschenkt bekommen. So konnte er den Aufgalopp des Fußball-Regionalligisten nach der Winterpause nicht miterleben. Der Weltmeister von 1990 hatte beim 1:1 der Blauen in Memmingen nicht viel verpasst. Große Fortschritte in der Mannschaft waren vor 1430 Zuschauern nicht zu erkennen. Vielmehr bestätigte sich der Eindruck des bisherigen Saisonverlaufs. Die Kickers geben alles, betreiben einen hohen läuferischen Aufwand. Es kommt aber zu wenig dabei heraus. „Wir waren auf fast jeder Position besser besetzt, diesen nicht allzu starken Gegner hätten wir schlagen müssen“, sagte Kickers-Sportkoordinator Michael Zeyer.
Stattdessen mussten die Blauen froh sein, überhaupt einen Punkt gerettet zu haben. Fabio Leutenecker glich den 0:1-Rückstand durch Candy Decker (70.) erst in der Nachspielzeit aus. Überhaupt Leutenecker: Der 20-Jährige war der Lichtblick im Team der Blauen. In der Winterpause war der Rechtsverteidiger von der U-23-Elf nach oben befördert worden. In Memmingen zeigte er, warum: Durch seinen unermüdlichen läuferischen Einsatz sorgte das wieselflinke Kickers-Eigengewächs für viel Druck nach vorne. „Fabio hat eine sehr gute Leistung gezeigt“, lobte ihn Trainer Dirk Schuster.
Ansonsten war der Coach vor allem mit der Moral zufrieden: „Meine Mannschaft hat sich mit dem Ausgleich selbst belohnt, weil sie sich auch in Unterzahl nicht aufgegeben und immer an ihre Chance geglaubt hat“, sagte Schuster. Michele Rizzi hatte nach wiederholtem Foulspiel (74.) Gelb-Rot gesehen. Damit fehlt der Mittelfeldspieler am kommenden Donnerstag (19 Uhr) im Heimspiel gegen Darmstadt 98. Dass Kapitän Marcel Rapp ins Team zurückkehren wird, ist eher unwahrscheinlich. In Memmingen vertraute Schuster in der Innenverteidigung auf Dominique Fennell und Simon Köpf. Dabei dürfte es vorerst bleiben. Offen ist, wie es mit Enzo Marchese (Schlag aufs Knie) weitergeht. Von einem Bluterguss bis zu einer Schädigung der Kreuzbänder ist alles möglich. Aufschluss soll heute eine Kernspintomographie geben.
Stuttgarter Nachrichten
Heimsieg in letzter Sekunde verspielt
FC Memmingen bringt 1:0-Vorsprung gegen die Stuttgarter Kickers nicht über die Zeit – 1430 Besucher sehen zwei grundverschiedene Halbzeiten
«Wirklich schade, echt schade.» Torhüter Tobias Kirchenmaier brachte hinterher auf den Punkt, was wohl die Mehrheitsmeinung im Memminger Publikum nach dem in buchstäblich letzter Sekunde verschenkten möglichen Heimsieg war. Bis in die Nachspielzeit hinein hatte Fußball-Regionalligist FC Memmingen die Stuttgarter Kickers am Rande einer Niederlage, ehe den «Blauen» in der 93. Minute durch Fabio Leutenecker noch der Ausgleich zum 1:1 gelang. Am Memminger Schlussmann lag es zuallerletzt, dass sich der FCM am Ende mit einem Zähler begnügen musste. Kirchenmaier parierte vielmehr einige Male glänzend, doch gegen den finalen Schuss des agilen Leutenecker war auch er machtlos.
In der ersten halben Stunde dominieren die Stuttgarter
Insgesamt gesehen hatten sich die Gäste aus der baden-württembergischen Landeshauptstadt den Punkt durchaus verdient. Vor allem, wenn in Betracht gezogen wird, wie deutlich sie in der ersten halben Stunde die Partie dominiert hatten. In dieser Phase war die Leistung der Mannschaft von Trainer Esad Kahric nicht dazu angetan, bei empfindlich kühlen Temperaturen den eigenen Anhang – es fanden 1430 Zuschauer den Weg in die Arena – zu erwärmen. Es war viel Sand im Getriebe. Dem Team war die lange Pause anzumerken.
Auf der Gegenseite vermisste Kickers-Coach Dirk Schuster bei den Seinen zunächst nur «den brutalen Zug zum Tor» und «dass wir unsere Konter nicht mit der letzten Konsequenz ausgespielt haben». Erst zum Ende der ersten Hälfte kamen die Memminger besser ins Spiel; jetzt eröffneten sich den Gastgebern auch Chancen, als Andreas Hindelang rechts durchbrach (42. Minute), ein Schuss von Stefan Zobel abgeblockt wurde (42.) und der junge Stefan Heger, der auf der rechten Außenverteidigerposition eine beherzte Vorstellung zeigte, nur durch ein Foul zu bremsen war (43.).
Ein Lattenknaller von Fabian Gerster in der 53. Minute im Anschluss an eine Rückpass-Entscheidung des Schiedsrichters weckte den FCM endgültig auf. Die Mannen von Trainer Kahric nahmen das Heft nun in die Hand. Zunächst zirkelte der dynamische Tobias Heikenwälder einen Ball noch knapp über den linken Torwinkel (64.), dann verfehlte ein Kopfball von Andreas Hindelang sein Ziel nur knapp (66.). Doch in der 71. Minute war es soweit: Candy Decker ließ mit seinem fünften Saisontreffer die Memminger Fans in der Arena jubeln. Der FCM-Angreifer drückte die Kugel über die Linie, die Vorarbeit hatte der vorstürmende Stefan Heger geleistet.
Nach dem «Last-Minute-Tor» zum Ausgleich der Stuttgarter kam die Frage auf, ob Trainer Esad Kahric mit seinen taktischen Wechseln in der Schlussphase zu viel Unruhe ins Team gebracht hatte. Sein Sohn Ejnar, der in der 83. Minute für Maier gekommen war, verneinte dies und sagte lediglich, man hätte «den letzten Ball einfach nur irgendwo auf die Tribüne dreschen müssen».
«Haben uns nicht gerade clever angestellt»
Hätte, Wenn und Aber: Fakt blieb, dass es dem FCM trotz zahlenmäßiger Überlegenheit nach Gelb-Rot für Michele Rizzi nicht gelang, den Vorsprung über die Zeit zu bringen.
«Da haben wir uns nicht gerade clever angestellt», räumte Stefan Zobel ein, während Abwehrmann Harald Holzapfel sagte: «Es darf uns nicht passieren, dass wir in Überzahl einen Konter kriegen.»