OSKAR BECK Mit Wundern kennt er sich aus: Vor 15 Jahren machte Edgar Schmitt das Spiel seines Lebens. So einen können die Stuttgarter Kickers als Trainer gebrauchen, meint der StZ-KolumnistOskar Beck.
Wenn man den neuen Trainer der Stuttgarter Kickers vorstellen will, stellt sich die Frage, womit man anfängt: mit seinem kurzen, verrückten Leben als Fußballstar – oder jenem Leben, das er am 28. Oktober 1993 morgens um 7.50 Uhr nicht verloren hat?
Edgar („Looping“) Schmitt nennt man ihn seither, denn so hat sich selten ein Fußballer überschlagen. Auf der Fahrt zum Training passiert plötzlich vor ihm ein Unfall. Er bremst. Zu spät. Er hebt ab, fliegt und überschlägt sich, viermal, fünfmal. Das krachende Chaos ist so schlimm, dass Schmitt hinterher sagt: „Wenn ich gestorben wäre, ich hätte es gar nicht mitgekriegt.“
Er lebt.
Er lebt sogar dermaßen, dass ihn jetzt, fünfzehn Jahre danach, die Kickers für ihren eigenen Überlebenskampf verpflichten. Der Kickers-Präsident Dirk Eichelbaum sagt: „Unser Wunschkandidat.“ Denn was in Degerloch gebraucht wird, ist ein Überlebenskünstler, der sich wehrt gegen das Schicksal und dazuhin noch weiß, was zu tun ist, wenn man, wie die Kickers, ganz unten ist. Fangen wir also nicht vorne an, sondern unten.
Bitburg, Eifel, ein Tag Ende Mai 1994. Wir begleiten den verletzten KSC-Fußballer Edgar Schmitt auf einem schweren Gang, genau gesagt die Treppe hoch zur Praxis eines Fitmachers. 30 Stufen, 30-mal Schmerzen. Und oben die Folterkammer. Grausame Geräte. Eisen. Stahl.
„Are you ready, Eddy?“ fragt der Folterknecht, ein Holländer. Ja, Eddy ist bereit für die tägliche Qual. Laufband. Beinpresse. Beugen. Strecken. Eddy schindet sich, die Augen treten ihm schier aus dem Kopf, er kämpft mit sich, dem operierten Knie, seinem inneren Schweinehund und dem Fitmacher, der fordernd faucht: „Du sollst beugen, Junge!“
„Scheißknie“, stöhnt Schmitt.
Es sind Bilder der Qual, man möchte mitschreien vor Mitleid mit diesem armen Kerl, dem ein Kreuzbandriss und zwei Außenmeniskusrisse die Existenz bedrohen. So quält er sich ein halbes Jahr. Ein halbes Jahr ohne Ball ist für einen 31-jährigen Kicker wie Knast – um aus dem wieder rauszukommen, muss einer alles Gute aus sich rauskitzeln. Schmitt hat es damals geschafft – und muss sich deshalb heute nicht wundern, wenn das große Wort wieder fällt: Auch aus den Kickers, sagt der Präsident, soll der neue Trainer „alles rauskitzeln“.
Edgar Schmitt hat als Fußballer das Beste aus sich gemacht. Dabei war eigentlich alles schon zu spät. Bürokaufmann hat er gelernt und nebenbei zum Spaß Tore für Bitburg, Salmrohr, Saarbrücken und Trier geschossen – als er mit 28 noch Profi wurde, sagte er locker: „Der Fußball ist nicht mein Leben.“ Sein Leben ist die Familie in Dudeldorf in der Eifel, und Oma Charlotte. Doch zwei Jahre später muss die Oma, mit 84, plötzlich in eine TV-Kamera sagen: „Mensch, jetzt macht dieser alte Bock noch solche Sprünge.“ Sie meint den Enkel, den über Nacht prominent gewordenen Spätzünder: Binnen einer Woche überlebt er im Autowrack und macht den Kick seines Lebens.
Sein Tag aller Tage ist der 2. November 1993. Morgens wacht er noch auf als irgendein Schmitt, doch am Abend geht das Flutlicht an, und alle Welt nennt ihn fortan den „Euro-Eddy“, denn im KSC-Trikot schießt er dem FC Valencia alle Uefa-Cup-Lampen aus, die Anzeigetafel meldet: „7:0 – Schmitt . . . Schmitt . . . Schmitt . . . Schmitt.“
„So um drei nachts kam ich heim“, hat er uns später erzählt, „und als ich den Anrufbeantworter abhörte, dachte ich: spinnen jetzt alle? Das waren achtzig Anrufe.“ Die spanische Zeitung „Sport“ spinnt sogar mit dem Titel: „Schmitt, der Henker.“ Im ersten Schock hat der sich das Video seines wilden Abends nur sparsam angeschaut, so sehr ist er vor diesem Fremdling erschrocken, den er da „wie bekloppt“ stürmen, schäumen und schießen sah, diesem Hitzkopf und Pulverfass. „Edgar, hab ich zu mir gesagt, das bist du nicht mehr.“
Schmitt kennt sich anders. Er ist eigentlich der beste Mensch. Im Flugzeug bat er die Mitreisenden mal um eine milde Spende für die notleidenden Seehunde in der Eifel. „Gibt“s in der Eifel denn Seehunde?“ fragte einer. „Nein“, sagte Schmitt, „aber wenn es sie geben würde, hätten sie Hilfe nötig.“ Die 2000 Mark, die er zusammenbekam, hat er der Kinderkrebshilfe gespendet.
Da verknüpft einer den Spaß mit dem Biss, der in jenen verrückten Uefa-Cup-Wochen anno 94 dazu führte, dass Schmitt alleine acht der fünfzehn KSC-Tore gegen Eindhoven, Valencia, Bordeaux und Porto schoss. Danach saßen wir einmal in einem Karlsruher Café, und er schaufelte ein Stück Himbeertorte in sich hinein und sagte: „Um ein Spiel zu kippen, bin ich der Richtige.“
Kippt Eddy als Nächstes die Stimmung in Degerlochs Höhen?
Stuttgarter Zeitung