Der Bankrott

Ich habe eine neue Leidenschaft: Ich tue nichts. Seitdem geht es mir gut. Ich kaufe zwei, drei Fußballmagazine und schaue nach, ob CFR Cluj noch mit drei Toren vor Steaua Bukarest die Tabelle der rumänischen Liga anführt. Beitar Jerusalem liegt in Israel klar vor Maccabi Netanja, da ist nichts mehr zu machen, und das sollte man wissen, bevor man die Frage klärt, ob Anorthosis vor Apoel Nikosia den Titel auf Zypern holen wird.

Die Kunst des Nichtstuns ist eine einmalige Gabe. Ich danke Gott dafür. Neulich noch habe ich mich mit der Frage auseinander gesetzt, ob der VfB die Mercedes-Benz-Arena braucht. Dieses Thema hat mir zu schaffen gemacht, aber auch geholfen, das Nichtstun zu entdecken.

Ich war drauf und dran, laut zu schreien: Ihr Unglückseligen, selbstverständlich braucht diese schöne Stadt ein richtiges Fußballstadion. Wie sonst soll es der VfB-Kunde in der Kurve aus sechs Kilometern Entfernung erkennen: Handelt es sich um den VfB-Manager Heldt oder den VfB-Spielmacher Bastürk, wenn einer von beiden auf Zehenspitzen Mike Hanke von Hannover 69 in den Bauchnabel beißt?

Sagen Sie mir nicht, es gebe kein Hannover 69, solange ich weiß, dass Modrica Maksima die Tabelle vor Celik Zenica in Bosnien-Herzegowina anführt. Ich weiß auch, was 69 bedeutet, ich habe als Nichtstuer gelernt, ins Zentrum menschlicher Lüste zu schauen: Seit Jahrzehnten besuche ich den Fußballplatz der Stuttgarter Kickers 1899, die einzige richtige Fußballarena der Stadt. Man hat Augenkontakt und danach die Gewissheit, dass Fußballfunktionäre vom Nichtstun leben.

Der Präsident der Kickers, er heißt Eichelbaum, hat dieser Tage per Brief den Papst zum Spiel eingeladen. Herr Eichelbaum hält dies für einen Gag. Er will die Kickers ins Gespräch bringen. Der Kickers-Präsident hält den Papstbrief für Öffentlichkeitsarbeit. Der Papstbrief ist die einzige Öffentlichkeitsarbeit, die der Kickers-Präsident in dieser Saison geleistet hat.

Herr Eichelbaum sollte keine Briefe an den Papst schreiben. Er sollte seinen Mentalcoach um eine Diagnose bitten. Wenn er das Ergebnis sieht, wird er nicht mehr den Papst um Hilfe bitten. Dann kann ihm nur noch der liebe Gott helfen.

Herr Eichelbaum ist hauptberuflich im Insolvenzgeschäft tätig. Ob er geistige Bankrotte bearbeitet, weiß ich nicht. Ich bin nicht der Papst. Am Freitag haben die Kickers gegen Oggersheim gespielt. Ich habe mein Nichtstun unterbrochen und bin hin. Der Papst war nicht da. Der Papst hatte mich zuvor angerufen. „Richten Sie Herrn Eichelbaum aus“, hat der Papst gesagt, „er möge den mentalen Offenbarungseid leisten, bevor er zur Hölle fährt.“ „Herr Papst“, habe ich gesagt, „Gott sei mit Ihnen.“

Die Kickers haben gewonnen.

Stuttgarter Nachrichten

In Sachen Keller, Kickers

Manche Menschen sagen mir nach, ich ginge zum Lachen in den Keller. Na und? Was soll an meiner Weigerung verwerflich sein, bei Tageslicht zu lachen? Zurzeit wird so viel gelacht, dass es nicht mehr auszuhalten ist.

Die Leuten sitzen in Vorstellungen aller Art und warten erregt wie Max Mosley, bis es endlich was zu lachen gibt. Wenn es mal nichts zu lachen gibt, sind sie beleidigt und lachen trotzdem, damit keiner sieht, dass sie beleidigt sind. Die Lachkrankheit, eine Folge der Comedy-Epidemie, ist so schlimm, dass sich kein Veranstalter mehr traut, seinem Publikum etwas zu bieten, über das es nicht lachen kann. Schwachmatenspaß ist Pflicht.

Das Publikum kommt mit einer krankhaften Lacherwartung und konzentriert sich während der Vorstellung so sehr aufs Lachen, dass ein Teil des Publikums auch lacht, wenn es nichts zu lachen gibt. Das Publikum lacht, weil es Angst hat, einen Lacher zu verpassen. Lachen ist ein Zeitgeistwahn. Mehr verbreitet als Demenz. Es gibt die neue Lachzwangsneurose.

Einst hat ein Radfahrer seinem Kollegen Jan Ullrich auf der Piste geraten: „Quäl dich, du Sau.“ Heute sagt mein Nebensitzer im Theater: „Lach doch, du Sau.“ Lachen ist die übelste Runterziehdroge, schlimmer als warmes Malzbier.

Obwohl heute sowieso schon bei jeder unpassenden Gelegenheit gelacht wird, gibt es immer noch den Lachnationalfeiertag. Das ist der 1. April, die humorloseste Veranstaltung seit Menschengedenken. Für den 1. April brüten die Lachzwangsneurotiker einen Aprilscherz aus, und dann lachen sie, hahaha. Sie lachen zwar auch am 29., am 30. und am 31. März, hahaha, aber am 1. April lachen sie noch dämlicher. Am 1. April 2008 stand auf einer aushäusig gesteuerten Internetseite meiner Zeitung, der VfB werde seinen Stürmer Radu an die zwei Klassen tiefer spielenden Stuttgarter Kickers ausleihen, um die Kickers vor dem Untergang zu retten. Damit eines klar ist: Die Kickers sind zurzeit im Keller. Aber nicht zum Lachen. Der Verfasser des Aprilscherzes ging zum Lachen leider nicht in den Keller. Sonst hätte ich ihn erwischt.

Es ist Zeit für einen Feldzug gegen das Lachen. Man lacht nicht über die Stuttgarter Kickers, solange ich mit der Linie 7 zum Gazistadion auf die Waldau fahre. Das ist nicht lustig. Ich lache nicht, ihr gottverdammten Lachzwangsneurotiker, wenn sich eure Oma den Oberschenkelhals bricht. Ich lache nicht, wenn meine Stadtbahn den nächstbesten VfB-Dackel überfährt. Und ich lache nicht, wenn euch Gott der Gerechte eines Tages den roten Hahn aufs Mercedes-Benz-Dach setzt. Untersteht euch also zu lachen, wenn die Kickers in Schwierigkeiten sind.

Sollte jemand dennoch Probleme haben, seine Lachplatte abzustellen, rate ich ihm, schleunigst einen guten Arzt aufzusuchen: „Als zwanghaftes Lachen oder als Lachkrampf“, heißt es in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, „kann das Lachen im Zusammenhang mit psychischen Störungen oder nervösen Erkrankungen stehen.“ Besonders trifft dies auf Lachzwangsneurotiker zu, die über die Stuttgarter Kickers lachen.

Sollte mir ein Lachzwangsneurotiker nach seiner nicht zu erwartenden Genesung beim Lachen über das Thema Radu/ Kickers im Keller begegnen, werde ich mit alttestamentarischer Würde reagieren: Ich kette ihn an die nackte Wand, hole einen Eimer Mörtel und greife mir einen Sack adäquater Hohlblocksteine: Radu mal, werde ich sagen, was ich gleich mit dir machen werde, hahaha. Ich sehe schon, wir Kreisligakomiker verstehen uns.

Joe Bauer liest heute (21 Uhr) im Club Erdgeschoss, Theodor-Heuss-Straße 4. Gäste: Eric Gauthier, Michael Gaedt, Dacia.

Stuttgarter Nachrichten

Erste Hilfe für die Blauen

Zur Umbenennung des Daimlerstadions in Mercedes-Benz-Arena.

Der VfB Stuttgart erhält für die Namensänderung des Daimlerstadions 20 Millionen Euro von der Daimler AG.

Im Hinblick auf die außerordentlich schwierige finanzielle Situation der Stuttgarter Kickers stellt sich die Frage, warum es nicht möglich ist, dem VfB nur 19 Millionen Euro zu geben und dafür eine Million Euro den Stuttgarter Kickers zukommen zu lassen? Mit einer Million Euro könnten die Kickers finanziell gerettet werden, und der VfB könnte diesen Verlust mit Sicherheit gut verkraften.

In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass der VfB viele Kickersspieler abgeworben hat (zum Beispiel Rolf Geiger, Walter Kelsch, Horst Haug, Jürgen Klinsmann) und allein durch den späteren Verkauf des Spielers Klinsmann nach Italien 13 Millionen Mark auf seinem Habenkonto verbuchen konnte.

Sollte dieser Vorschlag nicht realisierbar sein, schlage ich Folgendes vor: Der VfB und die Kickers veranstalten ein Freundschaftsspiel im Daimlerstadion, Sponsoren kaufen dafür die Karten auf und geben sie unentgeltlich ab, damit 40 000 bis 50 000 Besucher das Spiel sehen können. Der VfB sollte großzügig auf die Einnahmen verzichten.

Für alle Sportfreunde in Stuttgart und in der Region wäre es ein schmerzhafter Verlust, wenn es den Verein Stuttgarter Kickers als Alternative zum großen VfB nicht mehr gäbe. Das muss verhindert werden!

Die Stadt Stuttgart und alle potenziellen Sponsoren sollten in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die Stuttgarter Kickers seit Jahrzehnten in vorbildlicher Weise eine starke und erfolgreiche Fußballjugendabteilung finanzieren und damit auch im Rahmen der praktischen Integrationsarbeit eine große sozialpolitische Aufgabe erfüllen.

Es gibt meines Erachtens viele Gründe, dem Traditionsverein Stuttgarter Kickers das Überleben zu sichern!

Konrad Fiebig, Stuttgart (per E-Mail)

Stuttgarter Nachrichten

Joe Bauer: Seilbahn zum Friedhof

Warum auch der allerletzte Trick nichts bewirkt hat

Es war der letzte Trick, der mir einfiel. Einem Kickers-Mann, glauben Sie mir, fällt schon lange nichts mehr ein. Ich kam am Samstag gegen eins aus dem Mineralbad Berg, meinem zweitwichtigsten Naherholungspark der Stadt, und fuhr nach Degerloch. Normalerweise nehme ich am Charlottenplatz die Linie 7, sie hält auf der Waldau; diese Haltestelle hat man zu Ehren des Sponsors auch Gazistadion genannt.

Eine halbe Stunde vor Spielbeginn wartete ich am Charlottenplatz auf die Bahn. Diesmal, habe ich gesagt, diesmal nehme ich nicht die Linie 7 zum Gazistadion. Aberglaube, davon hatte ich gehört, kann Berge versetzen. Wenn Aberglaube Berge versetzt, überwindet er auch Abgründe.

Wie viele Jahre bin ich nach Degerloch gefahren. Erst mit der Zahnradbahn, dann mit der Linie 6, schließlich mit der Luxuslinie 7. Über dreißig Jahre bin ich nach Degerloch gefahren. Im Grunde, sage ich mir heute, war es wurscht, wie ich gefahren bin: Es ging bergab.

Diesmal bin ich mit der Linie 15 gefahren. Die Haltestelle Gazistadion stinkt, habe ich gesagt. Ich nehme die Linie 15 zum Fernsehturm. Der Fernsehturm leuchtet. Die Linie 15 ist die Gewinnerlinie, habe ich gesagt. Wenn du mit der Linie 15 fährst, kannst du nicht verlieren.

Im B-Block wartete wie immer mein Kollege George der Grieche, im Hauptberuf Gerichtsreporter, auch der Redaktions-Azubi Klinger war angereist, um am Ende der Bratwurst zu riechen, und irgendwo, in einem anderen Fan-Block, schlug wie bei jedem Spiel das blaue Herz des stadtbekannten Punk-Musikanten Tschelle, ich konnte es spüren im Stadion.

Genau genommen gibt es kein Stadion auf der Waldau. Es gibt seit jeher nur den gottverdammten Kickersplatz. Das war mal ein schöner Fußballplatz. Als Naherholungspark hat er ausgedient. Bald werde ich zur Naherholung die Seilbahn zum Dornhaldenfriedhof nehmen.

Die Toten auf dem Hügel haben ihre Würde behalten. Die Unterirdischen regieren bei den Kickers. Stehen herum wie Wachsfiguren. Die einen mit Visitenkarte, die anderen mit Rückennummer. Blamieren sich bis auf die Knochen, obwohl sie keine haben. Sonst würden sie die mal hinhalten. Was bleibt zu sagen: Auch die 15 ist eine Verliererlinie. Wir sind Scheißverlierer auf der ganzen Linie.

Stuttgarter Nachrichten

JOE BAUER: Himmelblau . . . und der Rest deines Lebens wird schön

Mit Fußball ins Bett zu gehen und mit Fußball aufzustehen, führt zu bedrohlichen Depressionen. Das passiert nach meinen Erfahrungen, wenn man am Abend beim „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF einschläft und sich am Morgen danach mit „Hattrick“ im DSF den Rest gibt.

Die Kunst, mit Fußball richtig umzugehen, bedeutet, Fußball in sein Leben richtig einzubetten. Das mag zunächst so klugscheißerisch klingen wie die Erkenntnis des DFB-Teammanagers Bierhoff, dass auf die Vergangenheit selbst dann die Gegenwart folgt, wenn man von der Zukunft keinen Schimmer hat.

Am vergangenen Samstag sah ich auf dem Fußballplatz das Nullnull der Stuttgarter Kickers gegen Elversberg in der dritten Liga. Beinahe hätte ich mit meiner Stadionwurst geworfen. Kurz darauf beschäftigte ich mich im Fernsehen mit der ersten Liga. Mitten in der „Sportschau“ den Nullnull-Unterhalter Beckmann vor Augen, wurde ich wütend: Ich zog meinen Mantel an, schlug die Haustür hinter mir zu und ging zur Show des famosen Berliner Unterhaltungsorchesters Die Ärzte, das unter dem Gütesiegel Punkrock seit Jahr und Tag frustrierte Menschen wieder auf die Beine bringt. Kaum hatte ich in der Sporthalle Platz genommen, um Fußball zu vergessen, sangen Die Ärzte: „Der Himmel ist blau / Und der Rest deines Lebens wird schön.“

Ich muss Ihnen nicht sagen, dass man die Kickers auch die Blauen nennt. In aller Form bitte ich darum, die Kolumne, die Sie gerade lesen, nicht als Beitrag zur Lage der Liga zu sehen, sondern als Bericht über die Schieflage des Lebens: Der zweite Ärzte-Song des Abends hieß „Scheitern“, der letzte „Zu spät“.

Am Nachmittag auf dem Kickersplatz hatte neben mir Jack, ein Londoner Arsenal-Fan auf Besuch in Stuttgart, die Blamage miterlebt. Als ich ihm zum Abschied den Rat gab, die nächsten Tage schönere Plätze der Stadt aufzusuchen als das Kickersstadion, sagte er, ohne einen Anflug von Humor: „Es war sehr schön hier. Das ist dein Club, egal, ob du unten bist oder oben.“ Okay, dachte ich, ein Fish-and-Chips-Mann bleibt ein Fish-and-Chips-Mann, egal, ob er bei der EM spielt oder nicht. Und womöglich haben die Engländer recht: Warum sollte man neuerdings zum Fußball nach Österreich reisen? Früher, wird der Motivationsguru Klinsmann den Engländern beibringen, hielten wir dort nicht einmal zum Tanken an.

Das erinnert mich an den „Hattrick“-Stammtisch des DSF vom Sonntag: Als in der Debatte um die deutsche Fußballerausbildung Hannovers Trainer Hekking voller Stolz erzählte, sein Team 96 habe mit acht Deutschen gespielt, konterte sein Kollege Lattek: „Sind Sie ausländerfeindlich?“

Der 14. Spieltag, dies zur Lage des Lebens, verlief eher langweilig. Hannover verlor mit seinen vielen Deutschen, der VfB gewann ohne seinen großen Türken, und die Bayern gewannen mit ihrem Weltweihnachtszirkus wie früher mitten in der Krise. So wundert es nicht, wenn alle weiter die Frage beschäftigte, ob der DFBManager Bierhoff ein Oberlehrer sei.

Barer Unsinn. Oberlehrer tragen nicht Maßanzüge, sondern Turnhosen, wenn sie bei ihrem Anspruch auf „brasilianische Spielweise“ ihre „Füße aus Malta“ in Flipflops verstecken. Auch das Argument des Leverkusener Sportdirektors Völler, Bierhoff dürfe den Spielbetrieb nicht kritisieren, weil er selbst kein großer Spieler gewesen sei, ist Humbug: Man kann ja dem Daimler-Chef Zetsche nicht vorwerfen, er habe keine Ahnung von der S-Klasse, weil er früher noch schlechter eingeparkt habe als die Frau seines Vorgängers Schrempp. Völler muss sich selbst an der Nase ziehen: Wie kann es sich ausgerechnet ein Mann mit Oberlippenbart herausnehmen, einen anderen Mann zu rasieren?

Zur besseren Einschätzung der Lage des Lebens tragen solche Diskussionen nicht bei. Ihr Motivationsschub fürs Publikum kommt an keinen Ärzte-Song heran. Man weiß ja nicht einmal, was zuletzt höheren argumentativen Wert besaß: Völlers Einwurf in den Intimbereich des Fußballtaktikers Bierhoff oder der Flug einer Schwarzwälder Kirschtorte in den Fünfmeterraum des Politstrategen Oettinger.

Stuttgarter Nachrichten

Träumen hilft

…Stuttgarter Kickers

APROPOS…Von Peter Stolterfoht

Normalerweise geht es in dieser Rubrik um die lustigen Seiten des Sports. So ein bisschen Tralala eben, mit dem einen oder anderen eingestreuten Gag. Heute aber widmen wir uns hier zur Abwechslung mal einem traurigen Thema. Es geht um die Stuttgarter Kickers. Die treten am Samstag im Daimlerstadion zum Derby beim VfB an. Wie tief die Kickers gesunken sind, zeigt allein schon die Tatsache, dass sie mittlerweile vor einem Regionalligaduell mit der Reservemannschaft des Bundesligisten als krasser Außenseiter gelten.

Damit die letzten geschätzten zwölf Kickers-Fans, die es in Stuttgart noch gibt, wieder auf andere Gedanken kommen, sei an dieser Stelle an ein Stuttgarter Derby im Daimlerstadion erinnert, das ziemlich genau vor sechzehn Jahren stattgefunden hat. Am 16. Bundesliga-Spieltag hatten die Kickers-Spieler Claus Reitmaier, Jochen Novodomsky, Wolfgang Wolf, Thomas Ritter, Thomas Richter, Alois Schwartz, Juan Cayasso, Reinhold Tattermusch, Matthias Imhof, Marcus Marin und Dimitrios Moutas sowie die eingewechselten Karel Kula und Jens-Peter Fischer den VfB Stuttgart am Rande einer Niederlage.

Hätte der VfB am Ende nicht sehr glücklich 3:1 gewonnen, dann wäre wahrscheinlich alles ganz anders gekommen. Der VfB hätte sich in dieser Saison nicht den Meistertitel geholt, und die Kickers wären auch bestimmt nicht abgestiegen. Wahrscheinlich hätte sich im Stuttgarter Fußball alles völlig anders entwickelt, hätten die Kickers dieses eine Spiel gewonnen. Dann würde jetzt am Samstag wahrscheinlich die zweite Kickers-Mannschaft im Regionalligaderby gegen die erste VfB-Garnitur antreten und wäre in dieser Partie auch noch der große Favorit.

Ein bisschen träumen hilft übrigens, wenn das blaue Herz blutet.

Stuttgarter Zeitung

JOE BAUER: Unser Mann von Arsenal

Noch ein paar Strophen über das alte Lied von den Stuttgarter Kickers

Anfang der Saison 2006/07 stand ich, wie so oft in den vergangenen dreißig Jahren, im B-Block auf dem Fußballplatz und verdrängte den Gedanken, schon wieder lange wertvolle Stunden eines kurzen wertlosen Lebens zu verschwenden. Die Blauen spielten auf der schönen Waldau gegen den VfB II, es war ein gutes Spiel, und im Team der Roten aus dem Neckartal tanzte ein Spieler mit langen Haaren vor der VfB-Abwehr. Warum spielt der Kerl in der Holzklasse, dachte ich, und nicht bei Real Madrid?

Das Spiel ging unentschieden aus, und ich sagte zu meinem Kollegen, genannt George der Grieche: Siehst du, Regionalliga ist nicht so peinlich, wie du glaubst. Und denken Sie jetzt bloß nicht, ich sei ein Roter, weil ich noch weiß, wie der Langhaarige vom VfB vor der Abwehr tanzte. Fragen Sie meinen Freund George den Griechen, er ist in der Redaktion für Mord und Totschlag zuständig und geht zu den Blauen, seit er laufen kann.

Meistens stehe ich neben ihm. Einmal hat er während des Spiels drei Tüten Fisherman“s Friends gelutscht und keine einzige Filterlose geraucht. Er hat behauptet, Verzicht auf den Rängen helfe der Kondition auf dem Rasen. Wir haben verloren. Und wir gingen wieder zum Spiel.

Das nächste Heimspiel gegen das große Elversberg wird unser wichtigstes des Jahres: George lässt extra seinen Schwager Jack einfliegen. Nach der vermasselten Nichtraucher-Nummer ist er unsere letzte Hoffnung. Schwager Jack ist Engländer, Fan von Arsenal London, und diesmal muss der Trick funktionieren. Im Namen der Königin von England: Wir werden siegen. Wer zum Teufel weiß denn noch, dass sich die ruhmreichen Kickers einst die Gunners zum Vorbild nahmen? Dass die alte, längst abgerissene Holztribüne unterm Fernsehturm ein korrekter Nachbau der Arsenal-Tribüne war?

Wir hatten mal einen Club mit Stil. Und zwar bevor wir gleich zweimal in der Bundesliga an- und abgetreten sind. Damals, als die Kickers-Chefs nichts Dümmeres zu tun hatten, als sich mit den Roten im gemeinsam bespielten Neckarstadion um Kabinen und VIP-Plätze zu prügeln. Anstatt der Welt zu zeigen: Seht her, dort sind die großen Roten und hier die kleinen Blauen, und das Neckartal ist klein und die Waldau groß. Und die guten Piraten verkehren in Degerloch – schöne Grüße nach St. Pauli im schönen Hamburg, es lebe der kleine Unterschied.

Aber wem helfen die alten Lieder. Der Altstadt- und Kickers-Musikant Kotlett, der auch auf der Reeperbahn eine große Nummer geworden wäre, ist auch bald zwanzig Jahre tot. Gut, dass wenigstens noch George der Grieche die lustigsten Zeilen unserer entsetzlichen Hymne singen kann: „Wenn die Kickers auf dem Rasen / Hier daheim und anderswo / Wie ein Mann zum Angriff blasen / Dann ihr Leute klingt das so: Hey-A, Hey-A Kickers vor . . .“ (Text: Joachim „Blacky“ Fuchsberger / Musik Erwin Lehn).

Am 17. November spielen die Blauen im Neckartal bei den Roten, und die organisierten Kickers-Fans haben unter dem zweideutigen Motto „Talfahrt stoppen!“ zum Boykott aufgerufen. Man soll das Eintrittsgeld nicht zum VfB hinuntertragen, sondern lieber den Kickers spenden.

Wahrscheinlich gehe ich trotzdem über den Neckar zu den Roten, bevor die Kickers über den Jordan gehen. Vielleicht kommt auch George der Grieche mit.

Der Typ mit den langen Haaren ist mittlerweile Deutscher Meister, er heißt Khedira, und die katastrophal gemanagten Kickers spielen in Wahrheit nicht mehr gegen den VfB, sondern gegen den Pleitegeier. Kann gut sein, dass die Blauen schon bald beerdigt werden wie die alte Straßenbahn der Linie 15 hoch zum Fernsehturm. Dann gehen George der Grieche und ich in Zukunft zu Arsenal, und es wird sein, wie es niemals war.

Stuttgarter Nachrichten

Nur eine von vielen Baustellen

Von Joachim Klumpp 

Zumindest in einem Punkt haben die Stuttgarter Kickers in der Fußball-Regionalliga Süd derzeit die Nase vorne: Sie haben für die erste Trainerentlassung der Saison gesorgt. Was zunächst einmal ein Eingeständnis ist, in dieser wichtigsten Personalie – mit dem Wunschtrainer – falsch gelegen zu haben. Zeidler wiederum hat es im unruhigen Fahrwasser des Traditionsclubs allerdings auch nicht verstanden, eine klare Hierarchie im Kader aufzubauen, geschweige denn eine Spielerpersönlichkeit zu installieren. Überraschend kam die Entscheidung nach dem siebten Heimspiel ohne Sieg also nicht mehr, auch wenn man über den richtigen Zeitpunkt angesichts des Auftritts in der zweiten Hälfte gegen Frankfurt durchaus streiten kann.

Viel unerwarteter ist die Ernennung von Stefan Minkwitz zum Cheftrainer, schließlich ist der letzte Tabellenplatz mit den A-Junioren alles andere als eine Reputation. Dass der Exprofi das Umfeld in Degerloch wie kein anderer kennt, kann Vor- und Nachteil zugleich sein. Letztlich gaben wohl die finanziellen Zwänge der Kickers den Ausschlag, diese (kleine) Lösung zu favorisieren.

Zumal es in Degerloch weitere Baustellen gibt, fast so viele wie auf Deutschlands Autobahnen. Angefangen im sportlichen Bereich, wo die Situation bei Amateuren und Junioren bedenkliche Züge annimmt; über die finanzielle Schieflage des Vereins, bei der im Hinblick auf Etatplanung und Lizenzierung kaum Lösungsansätze zu registrieren sind; bis hin zum wichtigen Bereich Marketing, in dem bei der Sponsorensuche offenbar das Zufallsprinzip regiert. Kurzum: der Verein präsentiert sich schlechter als je zuvor.

Der an allen Fronten kämpfende Präsident Dirk Eichelbaum ist um seine Aufgabe jedenfalls nicht zu beneiden, auch weil in seinem Umfeld das Prinzip Worte statt Taten dominiert. Die folgten jetzt zumindest beim Thema Trainer. Doch Zeidlers Entlassung ist allenfalls ein Mosaiksteinchen, dessen Austausch aus dem Gesamtbild Kickers nicht automatisch ein Kunstwerk macht.

Stuttgarter Zeitung