Jürgen Löhle, aktualisiert am 12.05.2011 um 18:21 Uhr
Stuttgart – Noch ein Glas Bier bis zum Anpfiff. Vor dem Imbiss am Fernsehturm sammeln sich die ersten Fans in ihren blauen Shirts vor dem Regionalligaspiel der Stuttgarter Kickers gegen die zweite Mannschaft des Karlsruher SC. Fußball in Degerloch sei etwas ganz Besonderes, sagt man. Ungewöhnlich ist jedenfalls schon mal, dass man hier, unweit des Stadions Currywurst mit Pommes auf weißem Porzellan serviert bekommt.
Gut eine Stunde bevor es los geht, werden die Tore zum Stadion hinter den Kassenhäuschen geöffnet. Zwischen den Holzverschlägen gibt es gratis ein paar Hinweise in Gestalt einer gutdeutschen Hausordnung. Demnach ist den „Besuchern die Mitnahme folgender Gegenstände untersagt: Waffen, Druckgasflaschen, ätzende Substanzen.“ Man braucht sich keine Sorgen zu machen; der Kickers-Fan bringt maximal ein Fähnle mit auf die Waldau. Was schwerer wiegt im Gepäck der treuen Anhänger ist die Verzweiflung über die sportliche Mickerigkeit. Himmel hilf – vierte Liga, ganz weit weg vom Oberhaus des deutschen Fußballs, wo man ja schon zweimal war. Der echte Blaublüter trägt’s mit Fassung und bissigem Humor. „Wie steht’s?“, fragt später beim Spiel ein zu spät gekommener Haupttribünengast in Ermangelung einer Anzeigentafel seinen Nebenmann. „Tragisch wie immer“, knurrt der. Im Klartext: 0:0 nach zehn Minuten.
Ex-Kicker holten 1990 WM-Titel
Angesichts der Historie des Vereins ist es für die Fans traurig, sich mit der zweiten Mannschaft der Karlsruher herumärgern zu müssen. Tief gefallen sind sie, die blauen Götter. Das schmerzt, wir sind hier immerhin bei dem Club, in dessen Trikot Jürgen Klinsmann groß geworden ist. Auch Guido Buchwald, Karl Allgöwer und Fredi Bobic haben unterm Fernsehturm ihre ersten Profitore geschossen, ehe sie dann schnöde in den nahen Talkessel hinab gezogen sind, von dem einige eingefleischte Blaue heute noch behaupten, dass da unten so eine Art Höllenfeuer lodert, das allerlei ungute Dinge ausspuckt, wie schwefliges Mineralwasser oder den VfB.
Klinsi verabschiedete sich 1984 gen Cannstatt, obwohl er nach einer Niederlage als Jugendspieler gegen den VfB einst zum Kickers Präsident Axel Dünnwald-Metzler gesagt hatte: „Eines schwöre ich Ihnen – zu denen gehe ich nie.“ In Degerloch tröstete man sich lange damit, dass der Erzrivale aus Cannstatt ohne Unterstützung eines Ex-Kickers 1992 nicht Deutscher Meister geworden wäre. Buchwald gelang damals im letzten Spiel in Leverkusen das entscheidende Tor. Und eines glaubt man auch unterm Fernsehturm: Ohne „Diego“ Buchwald und dem Klinsi hätte Deutschland 1990 nie den WM-Titel geholt.
Lang ist’s her, heute kickt selbst die zweite Mannschaft des VfB eine Liga höher als Blauen. Und dass ein Jungstar von den Kickers Richtung Cannstatt abgeworben wird – kein Thema, weil es erstligatauglichen Nachwuchs in Degerloch nicht gibt. Dafür geht es jetzt überschaubar zu auf der Waldau. 8,50 Euro kostet das Ticket für Erwachsene, 5,50 Euro für Kinder und zwar bis 16. Man kickt in einem reinen Fußballstadion, so etwas hat der VfB erst im Sommer. Eine halbe Stunde vor Anpfiff füllt sich die Stehtribüne hinterm Tor langsam, auf der Haupttribüne werden Vip-Bändchen an die Handgelenke der Besserzahler getackert. Dann geht’s in die Gasträume auf ein Viertele. Hinterm Tor trinkt man Bier aus Bechern und mit jedem Schluck steigt ein wenig die Hoffnung, Ende Mai vielleicht doch die niedersten Fußballniederungen verlassen zu können. Nach der besten Rückrunde seit Menschengedenken, herrscht Aufstiegsgefahr unterm Fernsehturm.
Aus den Boxen donnert Musik für einen Gutteil des Publikums – also für Männer so ab 40. AC/DC, die Stones, Aerosmith oder die Scorpions. „Wo Fußball noch rockt“, steht auf Kickers- Plakaten und Steven Tyler kreischt „Walk this way“ aus den Boxen. Rainer Graf hängt wie immer bei Heimspielen über einem Metallbogen auf der Stehtribüne, wippt mit dem Fuß und sagt: „Wenigstens dritte Liga, das wär was.“ Graf, 51, kommt seit Jahren von den nahen Fildern auf die Waldau. Ein Blauer durch und durch. Man kennt sich hier hinterm Tor und fiebert zusammen. Die Fans haben viele Abstiege hinter sich, das eint.
Fans schwelgen in Erinnerungen
Christian Mauch kommt vorbei. Der Orthopäde ist Mannschaftsarzt der Kickers. „Vor einem halben Jahr hätte hier doch noch keiner an so eine Serie geglaubt“, sagt er, „und wir haben das alles geschafft, ohne dass hier einer Millionen reingeblasen hätte.“ Da nickt auch Rainer Graf. Über ihm ziehen sich die Wolken zusammen.
Plötzlich schüttet es. Die Fans hinterm Tor werden nass, und auf der geschützten Haupttribüne schwelgen manche in ihren blauen Sitzschalen in Erinnerungen an eine Zeit, als die Spieler da unten auf dem Platz noch in den Windeln lagen – wenn überhaupt. Es war der 5. Oktober 1991 als der Bundesligist SV Stuttgarter Kickers nach München fuhr, um sich, wie alle dachten, eine Klatsche abzuholen. Oktoberfestzeit, da verlieren die Bayern zu Hause nicht, und der Manager Hoeneß hatte getönt, dass man Mannschaften wie die Kickers schon mit drei Toren Unterschied weghauen sollte, so viel Anspruch muss schon sein.
Am Ende haben die Kickers den FC Allmacht 4:1 aus dem Olympiastadion geschossen, Trainer Heynckes platzte vor Zorn beinahe der eh schon kirschrote Kopf. Vier Tage später wurde Heynckes gefeuert, der Sportstudio-Moderator Günther Jauch ätzte im ZDF, dass jetzt selbst „bessere Thekenmannschaften“ ohne Schiss nach München führen. Die Kickers unter Trainer Rainer Zobel waren bundesweit das Thema – aber schon damals mit einem Selbstzerstörungsgen ausgestattet. Nach dem Bayern-Coup gab es zwei 0:1-Niederlagen gegen Duisburg und Düsseldorf und am Ende den Abstieg – ein Pünktchen fehlte zum Klassenerhalt. Zu allem Überfluss wurde der VfB in dieser Saison auch noch Meister. Mit Buchwald. Danach ging es für die die Kickers in Wellen abwärts – bis runter in Liga vier. Begleitet von wachsenden Geldsorgen.
Jetzt keimt wieder Hoffnung auf der Waldau: Kurz vor Anpfiff nochmal Musik, die nicht rockt: „Blau und Weiß sind unsere Farben“ schallt es aus den Boxen. Das Vereinslied ist, wie vieles hier, Tradition, komponiert vom kürzlich verstorbenen Jazzer Erwin Lehn, dem ehemalige Chef des SDR-Tanzorchesters. „Auf die Blaue“ rufen ein paar Herren in edlem Business-Tuch, der Schiedsrichter pfeift an, der Regen nimmt zu. „Typisch“, schnaubt einer, „da kommen mal über 3000 und dann das.“
Man steht hinter dem Team
Kummer ist man hier gewohnt. Und Frust. Trotzdem sind die Blauen immer noch in den Herzen vieler Stuttgarter Kopfmenschen verankert. So leidet auch ein hiesiger Zeitungskolumnist öffentlich und erklärt dem Publikum, dass die Kickers, schwäbisch-linguistisch betrachtet, „in Dägerloch“ spielen. Wie auch immer – auf jeden Fall nicht am, im oder unterm Degerloch, wie schon mancher auswärtige Pressemensch oder Radioreporter behauptet hat. Und schon gar nicht am Böllenfalltor, wie einst das ZDF irrte. Das steht in Darmstadt.
Heute gibt es keine überregionalen Kameras mehr, und der KSC führt im „Gazi Stadion auf der Waldau“, so der offizielle Name, schnell 2:0. Die Herren auf der Haupttribüne sacken ein wenig in sich zusammen, die Jungen singen unverdrossen, wenn auch leiser. Nach einem kläglichen Schuss Richtung Fernsehturm klagt Graf: „Ond wenns Tor doppelt so hoch wär‘, hätt· er immer no drieber gschossa.“ Dann sagt er noch: „Der Spitz.“ Aber liebevoll, denn natürlich stehen sie hier hinter dem Team, auch wenn es nicht läuft. Sonst wäre eh schon lange Schicht.
Die Spieler auf dem Platz schütteln sich im Regen, Trainer Dirk Schuster rudert mit den Armen, die Kickers wachen auf, schießen zwei Tore und gleichen aus. Das Volk ist selig, brüllt nun geschlossen und mächtig: „Auf die Blaue!“ Das Hoffungslichtlein strahlt wieder, die Gesichter der Fans auch. Freude pur, für ein paar Minuten ist die Nummer der Liga wurscht.
Die Blauen bleiben also am Leben, Tradition auf kleiner Flamme. Und so manches hat sich relativiert in den vergangenen Jahren. Die Rivalität zum VfB ist kein großes Thema mehr, der sportliche Unterschied einfach viel zu groß. Und auf den Trikots beider Clubs prangt der gleiche Sponsor: Molkereispezialitäten türkischer Art.
Edelfans haben Dauerkarte für VFB
So mancher Edelfan der Kickers hat mittlerweile eine Dauerkarte des VfB in der Brieftasche und sagt das auch. Wenig geändert hat sich aber daran, dass die Kickers zwar als Verein mit vielen reichen Fans gelten, die aber schwäbisch-fest auf ihren Geldbeuteln sitzen. Der 2004 verstorbene Ehrenpräsident Axel Dünnwald-Metzler war da eine Ausnahme. Etwa zehn Millionen Mark hat ADM in sein Hobby gepumpt, und sich manchmal einen Spaß daraus gemacht, Leute zu veräppeln. „Wissen sie, wie man Millionär wird?“, fragte er gerne und gab auch gleich die Antwort. „Indem man sich als Multimillionär zum Präsident der Kickers wählen lässt.“
Abpfiff, 2:2 am Ende, es regnet immer noch. „Das war wirklich schlecht heute“, klagt ein begossener Blauer und strebt mit hängenden Schultern zum Ausgang. „Stimmt“, grummelt sein Begleiter, „aber sonst ist es auch nicht viel besser.“ Dann sagen sie lange nichts mehr, warum auch? Die Hoffnung ist gedämpft, aber noch am Leben, und zum nächsten Heimspiel morgen gegen die Zweite von Eintracht Frankfurt werden sie wieder da sein. Noch drei Spiele und nur zwei Punkte Rückstand auf Tabellenführer Darmstadt. Da geht noch was – vielleicht. Sie werden kommen, jubeln oder leiden. Schon aus Tradition.
Stuttgarter Zeitung